Frank Schlegel
Warum Fotografie?

Es ist der »Reiz der Realität«, das unmittelbare sinnliche Erleben der welthaften Dinge, das im fotografischen Bild wachgerufen wird.

Es gibt ja nichts Aufregenderes als die ›Wirklichkeit‹, und mit diesem Wort bezeichne ich nun das, was wir immer gerade jetzt! in unserer konkreten Lebenswelt im Modus der sinnlichen Wahrnehmung wahrnehmen und erleben. Eben jetzt sehe ich dies oder das, und zugleich damit ist mir auch klar: Es ist gerade kein Traum, keine Erinnerung oder irgendeine Fantasie, sondern eine wache Wahrnehmung der Welt, der erste Anfang aller anderen, sich womöglich noch daran anschließenden Bewusstseinsvollzüge, die nicht sinnliche Wahrnehmung sind.

Nirgendwo sonst bietet sich mir die Welt so intensiv als das eigentliche Welt-Wunder dar, indem sie als Form, Farbe, Schatten und Licht erscheint und auf diese Weise in mir die unerschütterliche Gewissheit eines ›Es ist!‹ erzeugt. Hier ereignet sich der stärkste und klarste Bezug auf die Dinge, die größte Wachheit und auch der herrlichste von uns erfahrbare Liebreiz. Kein Traum, keine Fantasie, keine Erinnerung, kein Imaginieren, keine Simulation, kein konzeptuelles Konstrukt kann an diese Erfahrung heranreichen.

Dabei stelle ich gar nicht in Frage, dass die Fantasie und auch die Erinnerung beim Betrachten einer Fotografie eine Rolle spielt. Das ist allerdings schon beim Sehen ganz generell der Fall, d.h. auch dann, wenn keine technischen Medien im Spiel sind. Es gibt durchaus keine ›reine‹ sinnliche Wahrnehmung, vielmehr den ständig um Sinn und Bedeutung ringenden Blick einer Person, die ihre eigenen Erfahrungen, Interessen und Wünsche beim Betrachten mit einfließen lässt. Und so ist schon das Sehen selbst eine Art ›Konstrukt‹. Aber eines, das neben den anderen genannten Bewusstseinsweisen immer noch den stärksten, hellsten und klarsten Weltbezug inne hat.

Nun könnte man einwenden, dass es in der Fotografie doch immer auch um das Nicht-Sichtbare geht. Ist nicht gerade das im Alltag zumeist Übersehene, das Fremde, das Rätsel und das Geheimnis ein Thema der Fotografie? Ich bin durchaus dieser Ansicht. Aber dieses ›Dunkle‹, nicht auf sinnliche Art und Weise Erblickbare ist nicht wirklich andernorts. Es ist auf eine unscheinbare Weise in der Sichtbarkeit selbst verborgen.

Die verschiedenen Kunst-Formen spiegeln das bis hierhin Gesagte wider. Sie alle speisen sich auf ganz unterschiedliche Weise aus den vielfältigen Vollzugsweisen unseres Bewusstseins wie Sehen, Hören, Erinnern, Wünschen, Fantasieren usw. Und so haben die Malerei, die Plastik, das geschriebene Wort oder die Musik durchaus ihren Reiz. Nichts aber liefert den originären »Reiz der Realität« derart stark und klar wie das fotografische Bild, eben weil es – trotz der ihm einwohnenden Künstlichkeit und Konstruiertheit – am intensivsten mit der besagten sinnlichen Welt-Erfahrung verquickt ist und diese selbst repräsentiert.

Für den Fotografen manifestiert sich dieser Sachverhalt nochmals auf eine andere Weise: Die eigene fotografische Arbeit ist mit ihren ständig wiederkehrenden Abläufen und Bezügen beim Betrachten einer Fotografie gegenwärtig. Das Wissen: Ich (oder der Andere) war als Zeuge vor Ort, es gab diese Stunde, Minute, Sekunde, es gab diese Umstände, diese Perspektive und dieses Licht. So hat es sich damals tatsächlich ereignet! Der ganze fotografische Prozess und die ihn tragende sinnliche Welt-Wirklichkeit ist auf eine verborgene Weise im Foto enthalten: Das Herumwandern, das Schauen, der Bezug, das Angezogen- und Abgestoßen-Werden, der sich fortsetzende Gang, das fotografische ›Einsammeln‹ der sich darbietenden sinnlichen Anblicke. Auf diese Weise ist das Foto im höchsten Maße angereichert mit Welt.

Warum also Fotografie?

Es braucht keine schöpferische Neu-Schöpfung der Welt.
Der verstehende Blick ist genug.
Nur wenig mehr als das, was immer schon da ist.

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