Idee und Realität
Das Sehen hat immer auch eine geistige Dimension. Der Blick will
verstehen und produziert auf diese Weise Sinn und Bedeutung, die alles Sinnlich-Phänomenale durchwirkt. Stephen Shore schreibt dazu in seinem Buch ›Das Wesen der Fotografie‹ (S. 132): »Wenn ich eine Fotografie mache, speisen meine Wahrnehmungen mein geistiges Modell. Mein Modell stellt sich darauf ein, meinen Wahrnehmungen nachzugeben (was mich dazu führt, meine fotografischen Entscheidungen zu verändern). Diese Modellanpassungen ändern umgekehrt wiederum meine Wahrnehmungen. Und so weiter. Es ist ein dynamischer, selbstmodifizierender Prozess. Ein Ingenieur würde dies eine Rückkopplungsschlaufe nennen. / Es ist eine komplexe, fortgesetzte, spontane Interaktion aus Beobachtung, Verstehen, Imagination und Absicht.«
Man kann es vereinfacht auch so ausdrücken: Ich habe immer schon ein Bild im Kopf (ein »Modell«), das nur bedingt mit dem, was tatsächlich zu sehen ist, übereinstimmt.
›Modell‹ und ›Realität‹ stehen in einer sich ständig wandelnden kreativen Spannung; das dynamische Feld zwischen beiden Polen ist der Ort der Fotografie.
Ich selbst erlebe diesen Prozess folgendermaßen:
Ich ›sehe‹ etwas, ich werde affiziert. Ich
ahne etwas. Mein »geistiges Modell«, d.h. das, was ich da als Bild eigentlich sehen möchte, ist so erst nur auf dem Sprung. Ich schaue genauer hin und modifiziere den Blick. Zeigt sich etwas (als Modell, als die ›Sache‹), um die es hier und jetzt geht bzw. gehen kann? Das Foto entsteht, doch es muss immer noch nachträglich auf ein Modell hin überprüft werden. Hat sich ein solches ins Bild gesetzt? Auch die Abwesenheit eines geistigen Modells kann ein Modell, eine ›Idee‹ sein ... etwas, was erst noch im Foto selbst zu er-blicken ist.
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