Frank Schlegel
Die dunkle Kammer

Kann es in der Fotografie noch ein Geheimnis geben? Wenn alles sichtbar und machbar, wenn alles reine geglättete Oberfläche ist? 
 
Und dennoch, es gibt sie immer noch: die dunkle Kammer. Sie ist nichts Materielles, sondern der geistige Raum, in dem das Wesen der Fotografie und damit zugleich das Rätsel der Sichtbarkeit aller Dinge verborgen ist. In der analogen Fotografie ist die Spur zu ihrem Sinn noch um einiges deutlicher als im digitalen Bereich: Denken wir an den bereits belichteten, aber noch nicht entwickelten Film, der sich im lichtdicht verschlossenen Innenraum der Kamera befindet. Das Bild ist hier noch im Dunklen geborgen, vor allen erdenklichen Blicken und Zugriffen geschützt. Eine Öffnung im Tageslicht würde die Licht-Spuren des Bildes zerstören, sie überblenden und dadurch das Bild selbst zum Verschwinden bringen. 
 
Dieser Sachverhalt ist eine Metapher für ein offensichtlich bildloses Bild, für eine unsichtbare Ikone, um deren Existenz wir wohl wissen, ohne sie jemals wirklich zu Gesicht zu bekommen. Sollte sie nämlich überhaupt einmal erblickt werden können, dann müsste sie paradoxer Weise zu einem sichtbaren Bild werden, zu einer quasi-religiösen Ikone, die uns das schlechthin Unsichtbare erahnen lässt. 
 
Fotografie ist der Versuch, dieses vermeintliche Paradox, also den Widerspruch von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Bild selbst zu bewahren. Der Widerspruch wird nicht aufgelöst, er erzeugt vielmehr eine kaum merkliche Spannung, die den Bild-Raum in seiner Länge, Breite und Tiefe durchzieht. Das Unsichtbare kann in diesem Raum zwar nicht eigens dargestellt werden, dennoch strahlt und scheint es auf eine rätselhafte Weise durch das Sichtbare hindurch. 
 
Wenn sich solches in der Fotografie ereignet, dann führt der Anblick der Bilder unser vernehmendes Verstehen an die Vorhöfe und Ränder der dunklen Kammer, die nichts ist, deshalb auch niemals zu öffnen, aber doch eine Art numinoser Wirklichkeit, deren Existenz wir in seltenen Augenblicken tief in unserem innersten Selbst erahnen.

5  zurück